Geschichten

Die Unendliche Geschichte der Ein-Auswanderung

Die unendliche Geschichte der Ein-Auswanderung.

 

Diese Geschichte wird sicher noch öfters geschrieben und erzählt. Sie ist schon oft und vielerorts passiert, und das Leben schreibt ihr Refrain immer weiter und immer wieder.

Mir geistert sie aber schon lange im Bewusstsein und obwohl sie eigentlich der Schluss eines Romans sein sollte, muss ich sie jetzt loswerden.

Angefangen hat sie sehr harmlos in einer Landarzt Praxis, mit einem Telefonanruf.

„Herr Doktor, ein unserer Arbeiter hat sich am Finger verletzt, kann er gleich kommen?“ „Ist es schlimm?“ „Nein, nur eine Quetschung, aber es blutet stark.“ „Er soll jetzt gleich kommen, machen sie ihm ein Druckverband darauf und die Hand hochhalten!“

In einer halben Stunde läutet es an der Türe und der bleiche Patient erscheint. Die Hand wurde versorgt. Übrigens, die so genannte Quetschung hat sich als Trümmerfraktur des letzten Gliedes am Daumen der rechten Hand mit Teilamputation der Weichteile entpuppt.

Die Wunde war stark verschmutzt und zerfranzt. Die Trümmer des Knochens hat man deutlich auf dem Röntgenbild sehen können. Der Arzt hat die Wunde gereinigt, Hand geschient Tetanus Spritze gemacht und den Patienten samt Röntgenbild in die Obhut der Chirurgen der Handchirurgischen Abteilung ins Spital geschickt.

So etwa haben wir den Salvatore kennen gelernt. Die Chirurgische Klinik hat etwa nach einer Woche festgestellt, dass sich eine Entzündung des Knochenmarkes am verstümmelten Daumen entwickelt hatte. Deshalb haben sie eine Behandlung mit täglichen desinfizierenden Bädern der Hand mit anschliessender Wundversorgung in unserer Praxis angeordnet. So kam von da an Salvatore jeden Tag in die Praxis. Geduldig badete er seine Hand je halbe Stunde in der Desinfektions- Lösung. Arbeiten durfte er nicht, da er Spengler von Beruf war und die Verletzung war an der rechten Hand und brauchte Ruhigstellung. Diese Tatsache bereitete ihm grosse Sorgen. Er fürchtete sich um seinen Arbeitsplatz obwohl er in der Schweiz bereits 19 Jahre lebte. Er hatte gerade vor kurzem seinen Arbeitgeber gewechselt und hatte Angst um seine neue Stelle. Auch seine Frau machte sich deshalb Sorgen, grosse Sorgen.

Manchmal kam sie sogar mit ihrem Mann zur Behandlung und verlangte die Wunde zu sehen.

Immer fragte sie danach, ob denn jetzt nicht schon die Zeit wäre ihren Mann arbeiten gehen zu lassen. Ihre Enttäuschung war immer grösser nach jeder negativen Antwort des Arztes. Wie ärgerlich sie aber darüber tatsächlich war, das hat wahrscheinlich nur der Salvatore zu spüren bekommen. Aber er beschwerte sich nie. Er kam immer mit einem schüchternen Lächeln, grüsste höfflich und bedankte sich für jede Kleinigkeit.

Tag für Tag kam er, bald einen Monat lange, da der Heilungsprozess der Osteomyelitis  seiner Hand sehr langwierig war. Wir alle in der Praxis haben uns an ihn gewöhnt, an seine ruhige und geduldige Art. Manchmal erzählte er von Zuhause in Italien und von seinen Aufenthalten dort, während seiner Ferien. Man hatte seine Sehnsucht nach der sonnigen Heimat gespürt, gerade in jenen Tagen vor Weihnachten.

Es war ein Samstag, da haben wir nur wenige bestellte Patienten gehabt und das nur am Vormittag. Sonst kamen natürlich auch Notfälle. Die Sprechstunde hatte noch nicht angefangen. Gerade waren wir aufgestanden, als das Telefon läutete.

„Dotore, Dotore! Du schnell kommen! My maa hat Weh, sehr Weh, er schreit!“ Schrie die Frau im Telefon. Man hörte im Hintergrund tatsächlich sein lautes Stöhnen. Es war Salvatore.

Der Doktor sprang zum Telefon und versuchte zu erfahren, was los war.

Die Frau hat nichts sagen können, nicht wollen. Schnell sprang der Arzt in seine Kleider: „Komm mit, Arzt Koffer und Rettungskoffer mit ins Auto!“ Und los, rasten wir ins Dorf. Die paar Treppen in die Wohnung flog er buchstäblich.

In der Diele auf einem uralten Sofa lag der Salvatore, beide Hände an die Brust gedrückt, wand sich von Schmerzen und schrie, schrie er! „Ach Dotore Weh! So Weh!“ „Ja, ja Salvatore, beruhige Dich, ich bin doch da, ich helfe Dir. Was ist passiert? Entspann Dich!“

Er war in Arbeitskleidern, alles an ihm roch nach Mist, die verletzte Hand voll Dreck. Der Doktor machte schnell den Koffer auf, den Stethoskop in der Hand, wärmte es in seiner Hand auf, lockerte die verdreckte verschmierte Kleider um die schmerzende Brust abhören zu können.

 Mit einem Zeichen zeigte er die Spritze, die vorbereitet werden musste, und als Salvatore sie bekam und die Wirkung eintrat, telefonierte der Arzt mit dem Spital und bestellte gleichzeitig

Den Krankenwagen. Schonend versuchte er dem schockierten Patienten beizubringen, dass er ins Spital eingeliefert werden musste. Die Frau hat beängstigt in der Ecke gestanden. Nun, alles wurde vorbereitet, man wartete ungeduldig auf den Krankenwagen. Die Frau hat leise erzählt, was sich zugetragen hatte.

Salvatore war am frühen Morgen seinen Freunden helfen gegangen Mist auf die Felder auszuwerfen. Der Traktor war gerade weggefahren um neue Fuhre Mist zu bringen und Salvatore und seine Freunde sind auf dem Feld zurückgeblieben, warteten auf seine Rückkehr und waren mit dem zerstreuen des bereits abgeladenen Misthaufen beschäftigt. Plötzlich fasste sich Salvatore an die Brust und sank lautlos zu Boden. Seine Freunde waren erschrocken und versuchten ihn zum Bewusstsein zu bringen. Als ihnen das nicht gelang, lief einer von ihnen ins Dorf, Hilfe holen. Den zurückkehrenden Traktor traf er unterwegs und auf dem Anhänger, nach dem sie den darauf geladenen Mist herunter warfen, brachten sie den Salvatore Nachhause. Dort kam er zu sich und fing an von Schmerzen zu schreien. „Den Rest kennen sie“ sagte die Frau leise. Salvatore erwachte aus seinem Halbschlaf und klagte über erneute Schmerzen. Mit gebrochener leisen Stimme klagte er: Schaffen, immer schaffen. Schaffen das ganze Leben lang und dann krank, und nichts haben…“ Das wiederholte er wieder und wieder unzählige male und immer wieder bis plötzlich…stille…sein Kopf fiel nach hinten, sein Körper bäumte sich auf, sein Gesicht lief violett an. Ich konnte die Spritze, welche in der Vene steckte kaum halten, damit weitere Medikamente, welche der Arzt mir reichte, verabreicht werden konnten. Der Puls fiel. Das Auto kam und kam nicht. Der Arzt sprang auf . Herzmassage, Mund zu Mund Beatmung, dann Tubus, wieder Beatmung Massage, Beatmung, wieder und immer wieder. „Salvatore respire! Respire prego! Madonna mia! Prego, prego Madonna mia! Respire Salvatore!“ 

 Salvatore öffnete die Augen anfangs unbewusst, dann sehend. Was sah er? Sprechen konnte er nicht, wegen des Tubus, er würgte ein wenig, dann beruhigte er sich unter der Einwirkung der verabreichten Medikamente. Die Atmung kam wieder, der Puls stabilisierte sich. Wir richteten uns erleichtert auf. Der Krankenwagen kam endlich, die Bahre, das Sauerstoff, Spritzen. Der Arzt verschwand mit dem Patienten  im Krankenwagen, die Türe schlug zu, das Auto fuhr heulend davon. Ich stand auf der Strasse frierend in Pantoffeln, so wie wir in Eile kamen. Ich schaute dem dahin fahrenden Auto nach. „Oh Gott! Lass ihn leben! Er war kaum vierzig und hatte zwei kleine Kinder! Warum das alles? Warum gerade er, warum so?“

Verstört sammelte ich die zerbrochene Ampullen, verstreute Spritzen, Stethoskop, Blutdruckgerät, den Arzt und Rettungskoffer, den Mantel vom Arzt, in dem durcheinander hatte er es vergessen. Da stand ich wieder auf der Strasse, die Türe schliessend hinter dem ärmlichen Kämmerchen. Zum Glück waren die Kinder schon in der Schule…

Es war mir nicht ums Gespräch. Den Schock von damals, habe ich heute noch nicht vergessen.

Und doch war da noch vieles zu sagen, zu erledigen und meine Gedanken und Überlegungen mussten warten.

Natürlich, in der schmalen Strasse blieb das ganze hin und her mit den Autos, der Sirene des Krankenwagens und dem Schrei des Kranken und seiner Frau nicht unbemerkt. Und wie es so in den Dörfern ist, kuckten Kinder, welche gerade nicht in der Schule waren und Nachbarn, zuerst scheu hinter dem Vorhang und später erschienen sie auch auf der Strasse. Als der Krankenwagen abgefahren war, standen sie bald im Kreise herum und diskutierten rege trotz der beissender Kälte.

„Er hat gearbeitet! Habt Ihr das gehört! Und dabei dürfte er das nicht mit seinem Unfall!“ „SSSSS! Nicht so laut! Sonst erfährt das die Versicherung und kriegt er noch Schwierigkeiten! Der arme Siech!“ „Soll er doch! Der Tschinke! Wer weiss, jetzt, wie lange er im Spital bleibt und Taggelder bezieht und wir müssen das mit unseren Beiträgen bezahlen!“ „Wer weiss, ob er überhaupt durchkommt! Dabei hat er zwei schulpflichtige Kinder.“ „Hat er früher daran denken sollen! Geraucht hat er wie ein Kamin.“ „Er war ein fleissiger Arbeiter, wir mochten ihn gerne. Oft hat er uns im Garten geholfen und nichts verlangt.“

So und vieles mehr hat man aus den Gesprächen entnehmen können. Als ich mit dem Mantel und den Koffern beladen aus dem Haus kam, näherte sich mir eine Nachbarin von Salvatore und begleitete mich zum Auto, wo ich die Sachen verstauen wollte. Sie bückte sich vertraulich zu mir und sagte.  „Der ist schon lange krank gewesen. Ich habe es aber erst jetzt verstanden. Haben sie denn nichts verstanden? Haben sie denn nichts gemerkt?“ „War das ein Vorwurf?“ „Er ist doch jetzt mit dem Unfall so oft bei ihnen gewesen?“ „Wie könnten wir?“ Fragte ich erstaunt. „Wenn jemand mit einem verletzten Finger kommt, kannst Du nicht gleich merken, dass er in der Zukunft ein Herzinfarkt bekommt und das mit 40 Jahren!“ „Und wieso meinen sie, dass er das schon lange hatte?“ „Ja, wissen sie, er kam abends von der Arbeit Nachhause, parkte sein Auto vor unserem Haus und dann dauerte es immer so lange, bis er ausstieg. Wir haben uns öfters gefragt, was er so lange dort tat. Ja und jetzt meine ich, dass er Schmerzen hatte und immer wartete, bis ihm besser war und dann ging er Heim. Wissen sie, ich weiss schon, was ich sage. Ich bin nämlich auch Herzkrank und habe solche Schmerzen oft. Da muss ich auch ein Weilchen still bleiben und dann geht es wieder.“ Auf meinen verwunderten Blick lächelte sie ein wenig entschuldigend. „Ja, ich weiss, es ist ein Fehler. Ich bin in Behandlung bei einem Arzt in der Stadt, jetzt verstehe ich dass es falsch ist, dass sie nichts wissen für den Fall wenn mir was passiert. Dann können sie mir auch nicht richtig und vor allem schnell helfen. Mein Arzt in der Stadt ist dann weit und auch nicht immer erreichbar. Ich werde dafür sorgen, dass er ihnen einen Bericht schickt. Ja, aber der Salvatore, der hat zuviel gearbeitet, zuviel!“ Sie nickte bedenklich mit dem Kopf. „Warum nur? Warum nur, ja vielleicht ist die Frau schuld? Vielleicht wollte sie zu viel? Sie selbst arbeitete nicht, das ist doch bei „denen“ nicht üblich! „Die“ arbeiten doch immer alle, Männer, Frauen, Kinder! Sie schaffen, rackern sich ab, sparen, essen nicht richtig und alles das Geld tragen sie dort nach Süden und dort werden sie darum betrogen oder werden sie selbst zu Betrügern und machen noch mehr Geld- das aber selten.“

Ich konnte mich von der Kälte fast nicht mehr bewegen. Zu dem hatte es angefangen zu schneien. Endlich merkte sie, dass ich da stand voll beladen mit Koffern und Mantel, selbst ohne Mantel und in Pantoffeln und fast Blau von Kälte war nicht mehr fähig zu sprechen. Sie beendete das Gespräch und verabschiedete sich gnädig.

An und für sich, dass wäre auch dann schon die Geschichte von Salvatore… oder doch nicht?

Soll man da noch was hinzufügen? Ein glückliches Ende? Das hat diese Geschichte aber nicht. Weder glücklich noch ein Ende.

Der Arzt kam nach zwei Stunden zurück. Er war vollkommen erschöpft seelisch und physisch.

Unterwegs ins Spital hat der Patient noch einen Herzstillstand nach einem erneuten Herzinfarkt erlitten und durch erneute Herzmassage und künstliche Beatmung ist er wieder belebt worden. Das gleiche passierte auch in Spital auf der Intensiv Station wo er eingeliefert wurde. Jedoch, als der Arzt die Abteilung verliess, war der Patient sogar bei Bewusstsein.

Ist es ein Erfolg gewesen? Am Nachmittag hat man die Familie kurz zu Salvatore gelassen. Sprechen konnte er nicht, aber er erkannte alle und weinte. In der Nacht des Nächsten Tages verstarb er nach erneuten wiederholten Infarkten. Sein Leichnam wurde, begleitet von der Familie, nach Sizilien, woher er stammte, per Eisenbahn überführt und dort begraben. Dort, in der Heimat, nach der er sich so sehnte und zu der er nach 19 Jahren lebendig nicht mehr zurück fand.

Ja, die Sehnsucht wird mit den Jahren immer grösser, desto grösser, wie man merkt, dass der Weg zurück immer schmäler wird und immer schwieriger.

Die Geschichte liess für unsere Augen den Rosa Vorhang fallen. Die Welt sah plötzlich ganz anderes aus.

Plötzlich gab es zwei Sorten Menschen um uns alle herum. Es waren da die, die richtig Daheim waren. Und dann waren da noch die, die „nur auf Zeit“ hier Daheim waren. Auf Zeit? Dass ist die Frage! Wie lange kann man weg von Zuhause bleiben, und danach trotz dem mühelos zurückkehren? Alle diese Leute wollten doch nicht bleiben! Sie lieben ihre Heimat, mochten dort zurückkehren…ja, sie möchten dort auch sterben! Und, glauben sie mir! Diese Sehnsucht verfolgt sie und gleichzeitig treibt sie an zu arbeiten bis zum Umfallen!!! Was hindert sie dann an Rückkehr? Was ist das, was sie nicht zurückkehren lässt, besonderes dann, wenn sie die Sehnsucht, das Heimweh krank macht und dann schliesslich tötet?!

 

Diese Geschichte habe ich erlebt und niedergeschrieben vor mehr als 35 Jahren. Sie spielte sich ab, in einem Europäischen Land, welchen, spielt keine Rolle, überall geschah und immer noch geschieht das gleiche immer noch, immer wieder! Ja, die Einwanderer, welche legal oder illegal kommen, haben inzwischen andere Nationalität. Damals waren es die Spanier und Italiener. Dann kamen die Türken, Vietnamesen, aus Sri Lanka, aus Irak, Kurden, Aus verschiedenen Afrikanischen Länder, Pakistan, und nun Russland und seiner früheren Länder.

Ja, da habe ich vergessen, noch alle die Europäischen Länder des früheren Ostblock.

Die Krise, welche die ganze Welt so fest im Griff hält, die lernt uns vielleicht zu erkennen. Dass es nicht mehr „Wir und Die“ gibt, sonder nur Wir alle, Uns alle und zusammen schaffen wir es und irgendwann findet jeder von uns seinen Weg Nachhause. Hat vielleicht der griechische Dichter Kavafis mit seinem Gedicht „Ithaki“ das gemeint?!